Klarheit und Perspektive(n)

in Entscheidungssituationen und Veränderungsprozessen

Supervision und Coaching Sabine Grimm

Lukas Nissen & Michael Sturm: Emotionsvermeidung überwinden. Eine integrative Methode zur Regulierung des inneren Alarmsystems

Von Sabine Grimm

Grundbedürfnisse und psychische Sicherheit

Einer der nachhaltigsten Eindrücke der Jahrestagung 2020 der DAJEB (Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugend und Eheberatung e.V.) war für mich der Kurzfilm über das Still-Face-Experiment, welchen Prof. Christine Kröger während ihres Hauptvortrages am 14.3. vorstellte.

Ein etwa einjähriges Kind kämpft um die Aufmerksamkeit seiner Mutter, die über zwei Minuten (bemüht) keine andere Reaktion zeigt als Schweigen und einen direkten und ernsten Blick. Seine Verzweiflung mitzuerleben, hat mich tief berührt.

Der Film zeigte sehr deutlich, wie die anfängliche Verunsicherung und das sich zunehmend verstärkende Such- und Kontaktverhalten des Kindes (Kontaktreaktion) erst in Verzweiflung und dann in Apathie und Kontaktverweigerung umkippt, wenn die Suche nach einer emotionalen Reaktion (hier: der Mutter) zu lange unbeantwortet bleibt. Eine Kontaktaufnahme der Mutter nach Beendigung der ihr sichtlich schwerfallenden 2 Minuten beantwortet das Kind dann auch zunächst mit Misstrauen.

Das sich zunehmend steigernde Bemühen des Babys um emotionalen Kontakt und Reaktion durch die Mutter stellt eine natürliche Reaktion auf die psychisch bedrohliche Situation des Babys dar: das ringen darum, die Mutter wieder „ins Boot“ zu holen, ihre Aufmerksamkeit und liebevolle Zuwendung zu gewinnen und ihre Zustimmung: Ja, du bist. Du darfst sein. Und ich bin bei Dir.

Das Bedürfnis nach emotionalem Kontakt, Gesehen- und Beachtet-werden und Dazugehören gehört genauso zu unserer psychischen Grundausstattung wie die nach

  • Autonomie und Respekt,
  • Sein-Dürfen, angenehmen Gefühlen, Unlust-vermeidung und spontanem Selbstausdruck sowie
  • Selbstentfaltung und Sinnverwirklichung.[1]

Hans Jellosucheck spricht von „Wurzeln und Flügeln“ die jeder Mensch brauche.

Diese Grundbedürfnisse stehen in einem fundamentalen Zusammenhang mit dem zentralen Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung. Ohne ein Mindestmaß an Sicherheit und Orientierung können wir psychisch – und physisch – nicht überleben.

Bei Bedrohung Alarm

Aus der Traumaforschung wissen wir, dass eine dauerhafte oder plötzlich auftretende massive Frustration grundlegender Bedürfnisse zu innerpsychischen Alarm– und in der Folge zu Stressreaktionen und in der Folge zu maladaptiven – Bewältigungsreaktionen führt.

Und das geht nicht nur Kleinkindern so. Die Angst vor dem Verlust von Zuwendung, Anerkennung oder gar Zugehörigkeit nehmen wir als Gepäck genauso mit ins Erwachsenenalter, wie die vor Geringschätzung, Beschämung, Überwältigung und Kontrollverlust. Auf entsprechende Bedrohungen (z.B. während eines Streits mit dem Partner, in einer Prüfungssituation, bei Kritik durch die Chefin oder bei ärgerlichen oder ungeduldig-genervten Gesten unseres Gegenübers) antwortet unser bio-psychisches System mit einer Alarmreaktion. Diese geht mit hohem Stress und der Einengung der Aufmerksamkeit („Tunnelblick“) einher.

Die psychischen und physischen Kräfte werden auf das Überleben ausgerichtet: Kampf oder Flucht. Wenn keines von beiden möglich oder erfolgreich ist, können wir uns unterwerfen („Tu mir nichts! Ich mache alles, was Du willst!“, „Ich bin gar nicht da!“ „Ich bin nichts, Du bist alles!“ etc.) oder innerlich aussteigen (erstarren/dissoziieren). Dann „sitzen wir wie das Kaninchen vor der Schlange“ und können uns nicht mehr wehren.

Da in solchen Momenten automatisch der älteste Teil unseres Gehirns, das „Reptilienhirn“ die Führung übernimmt, stehen uns die Funktionen des Großhirns nur sehr begrenzt zur Verfügung: Die Fähigkeit, eine Situation ruhig zu betrachten und logische Schlüsse zu ziehen, vernetzt zu denken, ja sogar die Erinnerung an sinnvolle Kommunikation- oder und Konfliktlösungsstrategien kann völlig ausgeblendet sein. Oft verhalten wir uns dann auf eine Weise, die – „mit den Augen der Vernunft“ (Großhirn) betrachtet – für uns selbst unverständlich oder gar beschämend ist (= erneute Bedrohung!). Ein Teufelskreis.

Die auf Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie entwickelte Schematherapie spricht hinsichtlich der Bewältigungsstrategien von relativ überdauernden Schema-Modi: Komplexe Muster der Wahrnehmung, des Erlebens und der Reaktion, die der/die Einzelne aufgrund massiv bedürfnisfrustrierender bzw. traumatisierender Erfahrungen v.a. in der Kindheit ausbildet. Diese gilt es bewusst zu machen und zu verändern.

Ansätze emotionsfokussierter Therapie und Beratung beschäftigen sich ebenfalls mit den oft maladaptiven Versuchen, in brisanten interpersonellen Situationen (z.B. in der Kommunikation hochstrittiger Paare) sowohl unsere Zugehörigkeit als auch unsere Selbstachtung zu erhalten. Dabei werden die zugrundeliegenden Bedürfnisse und Gefühle validiert und erkundet. Die gemeinsame Suche gilt dann sinnvolleren Ausdrucksformen und Befriedigungsmöglichkeiten.

Von der Schematherapie zur Arbeit im Emotionalen Resonanzraum (ERR)

Einen anderen Weg beschreiben Lukas Nissen und Michael Sturm. Ihr Ansatz, den sie auf Grundlage der Schematherapie entwickelten, setzt direkt an der den Gefühlen und Bewältigungsreaktionen zugrundeliegenden Alarmreaktion an.

Zur Erinnerung: Der durch eine physische oder psychische Bedrohung (s.o.) ausgelöste Alarmzustand ist gekennzeichnet durch:

  • ein erhöhtes Energieniveau (Arousal),
  • Überlebensreaktionen (Kampf, Flucht oder – wenn beides nicht möglich bzw. erfolgversprechend ist – Unterwerfung oder Erstarrung -> Dissoziation),
  • die Einengung der körperlichen und psychischen Funktionen auf das Überleben (Tunnelblick).

Dazu kommen

  • eine starke Orientierung am sozialen Umfeld (an der Gruppe, am Konfliktpartner statt an den eigenen Bedürfnissen und Gefühlen)
  • einen hohe Handlungsdruck sowie
  • eine sich selbst aufschaukelnde Dynamik und hohe Ansteckbarkeit

Dieser Prozess hat große Auswirkungen auf

  • Gedächtnisprozesse und Lernfähigkeit (Fähigkeiten des Großhirns stehen im Zuge der sich aufschaukelnden Alarmreaktion immer weniger zur Verfügung.)
  • die Deutung des Verhaltens, der Aussagen und der Absichten des Gegenübers (Einengung auf selbstwertschädigende und bedrohliche Deutungen -> sich selbst erfüllende Prophezeiungen) sowie auf die
  • nach innen und außen gerichteten Bewältigungsstrategien, wie z.B. das Kommunikationsverhalten.

Während die dem Modell zugrundeliegende Schematherapie von 18 Schema-Modi ausgeht, postulieren Nissen und Sturm nur zwei:[2]

  • den alarmierten Zustand und
  • den Zustand wohlwollender Präsenz

Ohne Gefühle keine wirkliche Orientierung – und keine Sicherheit

Dass die Bewältigungs- bzw. Lösungsversuche im alarmierten Zustand maladaptiv sind, liegt auf der Hand. Sie gehen insbesondere mit der Leugnung authentischer Gefühle einher. Angst, Wut, Schmerz, Trauer „dürfen“ nicht mehr gespürt werden, weil sie als nicht bewältigbar und damit als zu bedrohlich wahrgenommen werden.  Und damit verlieren wir unsere wichtigste Instanz für die Beurteilung einer Situation und die Wahrnehmung unserer Bedürfnisse.

Nissen und Sturm betonen, dass Sicherheit als zentrales Bedürfnis und die damit einhergehenden angenehmen Gefühle erst wieder wahrgenommen werden können, wenn die eigentliche Alarmreaktion abgeklungen ist. Und erst dann stehen uns auch die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erfassen, logisch zu denken und Handlungen abzuwägen wieder zur Verfügung. Leider kann diese Beruhigung nicht durch Ablenkung oder gar Suchtverhalten erreicht werden – auch wenn dieser Weg scheinbar nahe liegt.

Emotionsvermeidung überwinden als Weg

Die These der Autoren, die sie anhand vieler Beispiele untermauern, lautet:

Die Einübung der Fähigkeit, sich selbst auch und gerade in emotional als bedrohlich erlebten Situationen mit wohlwollender Präsenz zu begegnen beendet den Alarmzustand und fördert die Fähigkeit zur Selbststeuerung und damit zum flexiblen Umgang mit (herausfordernden) Alltagssituationen (S.99).

Damit sind die zentralen Therapieziele angesprochen. Erreicht werden sie durch die Arbeit im Emotionalen Resonanzraum (ERR). Sie basiert auch einer Verbindung von emotions- und achtsamkeitsbasierten Ansätzen, einer empathischen und wertschätzenden Haltung der Therapeut*in und Psychoedukation.

Die Rolle des/der Therapeut*in beschreiben sie als die einer Prozesshelfer*in, die sowohl Schutzraum zur wohlwollenden Selbsterkundung als auch Orientierung durch Wissensvermittlung bietet (S.100f.) Besonders angesprochen hat mich folgende Aussage, die m.E. genauso für Berater*innen, Coaches und Supervisor*innen gilt:

„In der Rolle als Prozesshelfer geht der Therapeut außerdem davon aus, dass der Leidensdruck des Patienten im Wesentlichen auf sein Gefangensein in seinen Alarmaktivierungen und automatischen Bewältigungsprogrammen zurückgeht und nicht auf mangelnden Fertigkeiten im Umgang mit Alltagsaufgaben.“[3]

Es geht also vordringlich nicht um die Entwicklung und Einübung von praktischen Fertigkeiten, sondern um die Wieder-Befähigung des/der Klient*in, über diese Fähigkeiten zu verfügen! Hier zeigt sich die tiefere Bedeutung des Postulats humanistischer Ansätze: „Der Klient hat das Wissen und die Fähigkeiten zur Lösung seiner Probleme bereits in sich!“.

Die Arbeit im ERR ist keine Technik!

Nissen und Sturm betonen, dass die Arbeit im Emotionalen Resonanzraum keine Technik ist. Sie setzt entsprechende Selbsterfahrung auf professioneller Seite voraus. Nur wenn ich meine emotionalen Reaktionen selbst annehmen und wohlwollend erkunden kann, wenn ich keine Angst davor habe, meine eigenen Bedürfnisse und Gefühle (Angst, Wut, Schmerz, Trauer, Hilflosigkeit, Ärger, Ungeduld, … ) wahrzunehmen und auszuhalten, kann ich auch Anderen dabei zur Seite stehen, die eigene Erfahrungswelt zu erkunden.

Dies impliziert auch, dass wir uns als Berater*innen der Gefahren eines gegenseitigen Sich-Aufschaukelns der Alarmreaktion bewusst bleiben müssen. Wenn Beratungsziele plötzlich an Klarheit verlieren, die Klient*in sich immer weniger engagiert oder Kompetenzen nicht mehr „auffindbar“ sind, kann das auch mit als bedrohlich erlebten Reaktionen der Berater*in zu tun haben (z.B. Irritation und  Ungeduld, die als Geringschätzung erlebt werden und Scham sowie in der Folge Erstarrung/inneren Rückzug hervorrufen). Nissen und Sturm erörtern die Wirkung der Alarmreaktion im Hier und Jetzt des professionellen Settings anhand mehrerer Beispiele.[4]

(Handlungs-) Orientierung inklusive

Ein ganzes Kapitel ist dem Zusammenhang zwischen der „Dynamik von Alarmreaktionen und (der) Klassifikation psychischer Störungen“ gewidmet. Im Teil II des Buches geht es dann um das Wie der therapeutischen Arbeit im ERR. Dabei werden grundlegende Therapieschritte, Interventionen und konkrete Methoden vorgestellt, z.B. zur Arbeit mit traumatischen Erinnerungen oder zum Umgang mit unbefriedigenden Lebensumständen. Zudem werden achtsamkeitsbasierte und körperzentrierte Übungen vorgestellt sowie Hinweise für die Arbeit zu Hause gegeben.  

Aus meiner Sicht verdient das Buch eine klare Empfehlung. Berater*innen, die nach Wegen suchen, dem inneren Erleben mehr wirksamen Raum zu geben sowie die Dynamik zwischen Klient*in und Berater*in aktiv in den Prozess einzubeziehen, werden hier besonders profitieren. 

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Quellen:

Grimm (2020) – Grimm, Sabine: Lukas Nissen & Michael Sturm: Emotionsvermeidung überwinden. Eine integrative Methode zur Regulierung des inneren Alarmsystems. Dieser Text erschien in der Online-Zeitung der DAJEB „Beratung als Profession“, Ausgabe 5/2020, S. 19ff. und für die Veröffentlichung auf der Website der Autorin www.klarheit-und-perspektive.de leicht überarbeitet.

Nissen & Sturm (2018) – Nissen, Lukas & Michael Sturm: Emotionsvermeidung überwinden. Eine integrative Methode zur Regulierung des inneren Alarmsystems. Jungfermann Verlag Paderborn 2018


[1] vgl. mein Artikel „Zur Arbeit mit dem
Grundbedürfniskreuz“ in „Beratung als Profession“ 4/2020

[2] Die schematherapeutischen Modi (z.B. das „wütende Kind“) werden als maladaptive Bewältigungsversuche für die (drohende) Nicht-Befriedigung zentraler Bedürfnisse gedeutet.

[3] S. 101

[4] Im Beispiel von Frau Stein, S. 62f., beziehen sich die Autoren auch explizit auf das Still-Face-Experiment.

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